Sich verantwortlich fühlen für andere: wenn Harmonie überlebenswichtig war

Fühlst du dich häufig verantwortlich für die Gefühle und Bedürfnisse von anderen? Von Kindern, PartnerInnen, KollegInnen oder FreundInnen? Hast du feine Antennen dafür, wie es ihnen geht? Beziehst du es sofort auf dich, wenn deine Partnerin oder dein Partner mal schlecht gelaunt ist? Suchst du sofort nach einer Lösung, wenn es deinem Kind nicht gut geht? Gibst du gerne Ratschläge und versuchst die Probleme von anderen zu lösen?

Empathie und Hilfsbereitschaft sind grundsätzlich wunderbare Eigenschaften. Die Probleme von anderen lösen zu wollen, hilft jedoch leider niemandem. Statt zu schauen, was in dir gerade passiert, was es in dir innerlich so eng macht und dich sofort Ratschläge geben lässt, richtest du deine Aufmerksamkeit nach außen. So gut gemeint deine Hilfe ist, sie kann dein Gegenüber daran hindern, eigene Lösungen zu entwickeln und Verantwortung für sich selber zu übernehmen.

Zusammenfassung:

Dieser Text zeigt, wie früh gelernte Verantwortung für die Gefühle anderer dein Nervensystem nachhaltig geprägt hat und warum du heute so sensibel auf Stimmungen reagierst. Du erfährst, warum das Muster früher überlebenswichtig war und dass du Schritt für Schritt lernen kannst, deine eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen und gesunde Grenzen zu setzen.

Wieso fühlst du dich für andere verantwortlich?

Überwiegend sind es Frauen, die die Rolle der Kümmernden von klein auf lernen. Hier gibt es eine eindeutige gesellschaftliche Prägung. Fallen auf diesen vorbereiteten Boden Familienstrukturen, in denen du früh emotionale Verantwortung für andere Familienmitglieder übernehmen musstest, verstärken sich diese Muster.

Vielleicht ging es deiner Mutter psychisch nicht gut und du hast alles getan, um sie zu schützen und nicht noch mehr zu belasten. Du hast dich zurückgenommen, bist leise gewesen, hast keinen Ärger gemacht und hast Aufgaben übernommen, für die du noch zu klein warst, z. B. auf jüngere Geschwister aufgepasst.

Oder dein Vater war cholerisch und es war überlebenswichtig, ihm möglichst alles recht zu machen und seine Stimmung genau zu lesen, damit bloss nichts einen Wutanfall auslösen kann. Du hast einen 7. Sinn entwickelt und gelernt, kleinste Signale zu deuten, um dich wappnen zu können, soweit das überhaupt möglich war.

Vermutlich hast du daraus gelernt, dass es für dich sicherer ist und dass es dir besser geht, wenn es den anderen gut geht. Das ist keine Schwäche, sondern eine sehr effektive Überlebensstrategie. Als Kind hattest du keine alternative Handlungsmöglichkeit. Unbewusst behältst du dieses verinnerlichte und bewährte Muster auch als Erwachsene bei und deine Feinfühligkeit ermöglicht dir nach wie vor, die Stimmung von anderen sehr genau wahrzunehmen, egal ob in deiner eigenen Familie oder im Beruf.

Wie frühe Verantwortung dein Nervensystem prägt

Dein Nervensystem reagiert auch heute als Erwachsene sehr sensibel auf andere Menschen und ihren Gemütszustand. Anspannung und gedrückte Stimmung alarmieren dich, sie sind immer noch mit potentieller Gefahr verbunden. Vielleicht fühlst du dich auch schnell schuldig, beziehst schlechte Stimmung automatisch auf dich und fragst dich, was du schon wieder falsch gemacht hast. In solchen Momenten richtest du deine Wut gegen dich selbst. Dich selbst zu kritisieren ist auch heute noch sicherer, als andere in ihre Grenzen zu verweisen.

Die beiden beschriebenen Szenarien sind mögliche Beispiele dafür, wie Probleme und Stimmungsschwankungen der Eltern für dich als Kind Gefahr bedeutet hätten: Wäre es deiner Mutter noch schlechter gegangen, hätte sie womöglich gar nicht mehr für dich sorgen können. Oder du hättest den Zorn deines Vaters noch häufiger auf dich ziehen können. Die Umstände müssen aber gar nicht so drastisch sein.

Aus diesen und ähnlichen Erfahrungen resultiert ein großes Bedürfnis nach Harmonie im Außen. Das bedingt zwangsläufig Schwierigkeiten, Grenzen zu setzen. Denn Grenzen zu setzen hieße, deinen Wünschen oberste Priorität einzuräumen. Die Notwendigkeit, es anderen recht zu machen, wird auch als Fawning oder Bambi-Reflex bezeichnet. Und nochmal, das ist ein unbewusster Überlebensmechanismus, kein Versagen deinerseits.

Heute zeigt sich das vielleicht darin, dass du beruflich mehr Aufgaben übernimmst als du müsstest, dass du deinem Kind sofort Lösungsmöglichkeiten anbietest, statt es zu ermuntern, eigene Strategien zu entwickeln, oder dass du Probleme in deiner Partnerschaft nicht ansprichst und dir die Dinge schön redest.

Selbstfürsorge: Deine Bedürfnisse priorisieren und Grenzen setzen

Dich ständig mit den Problemen der anderen auseinanderzusetzen ist anstrengend, erschöpfend und unbefriedigend. Es bleibt kein Raum für deine eigene Lebendigkeit. Wo bleibst du? Auf lange Sicht kann dich dieses Verhalten sogar krank machen.

Paradoxerweise hilfst du auch den anderen nicht wirklich. Natürlich ist es schön, wenn einem mal jemand etwas abnimmt. Wer freute sich nicht darüber. Wird das jedoch zum Dauerzustand, hält es die anderen in einer hilflosen, unterfunktionierenden Rolle und verhindert ihr persönliches Wachstum und ihre Entwicklung.

Es ist nicht egoistisch, deine Bedürfnisse an die erste Stelle zu setzen. Du darfst für dich sorgen!

Wenn wir lernen wollen, die Helferrolle aufzugeben, müssen wir einsehen, dass wir keine Lösungen für die Probleme anderer haben.

Harriet G. Lerner

Zu verstehen, dass es schlicht und einfach unmöglich ist, die Probleme anderer Menschen zu lösen, ist eine wichtige Erkenntnis. Du bist nicht sie oder er und du weißt einfach nicht, was jeweils das Beste ist. Weißt du es denn für dich selbst?

Oft wollen Menschen keinen Rat. Sie wünschen sich vielmehr, dass jemand einfach Anteil nimmt an ihrer Trauer oder ihrem Ärger, indem er oder sie nur da ist und zuhört. So kann Schmerz da sein, ohne dass er sofort weggemacht werden muss.

Ich glaube, dass es sich immer lohnt, die eigenen Muster zu erkunden, vor allem die alten, die dir heute nicht mehr dienlich sind. Wie wäre es, mehr Raum für dich und deine eigenen Bedürfnisse zu schaffen? Könnte das helfen, deine Partnerschaften mehr auf Augenhöhe zu leben? Könnte das deinen Kindern helfen, an eigenen Erfahrungen zu wachsen?

Hier sind fünf Reflexionsfragen für dich, wenn du deinem Muster auf die Schliche kommen möchtst:

  • Was passiert in dir, wenn ein anderer gerade in der Klemme steckt?
  • Was in dir macht es so schwer, damit zu sein?
  • Was bräuchte es, um zukünftig anders damit umgehen zu können?
  • Welche Qualität in dir wäre dafür hilfreich?
  • Was steht dem bisher im Wege?

Vielleicht möchtest du diese Fragen nicht alleine erkunden. Wenn du dir Begleitung wünschst, unterstütze ich dich gerne dabei, deinen eigenen Weg zu mehr Selbstfürsorge und hin zu dir zu finden. In einem Kennenlerntermin können wir gemeinsam schauen, wie dieser Prozess für dich aussehen kann.



Bild von Stefanie Wittiber-Schmidt

Stefanie Wittiber-Schmidt

Heilpraktikerin, Somatic Experiencing, Rolfing Strukturelle Integration, Integrale Somatische Psychologie

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