Hallo und schön, dass du hier bist! Vielleicht beschäftigst du dich schon länger mit dem Thema Trauma und seinen Auswirkungen. Vielleicht denkst du, dass Trauma mit dir eher nichts zu tun habe, bist aber dennoch ein bisschen neugierig. In jeden Fall freue ich mich, wenn du hier bleibst und dir ein wenig Zeit zum Lesen nimmst.
Ich bin überzeugt, dass Trauma uns alle betrifft, uns alle angeht und dass es eine gesellschaftliche Verantwortung gibt. Daher finde ich es fatal, wenn Unterstützung gestrichen wird, wie etwa kürzlich mit der Einstellung des Fonds Sexueller Missbrauch. Meiner Meinung nach ist Traumaheilung keine Privatangelegenheit, sondern von gesellschaftlicher Relevanz.
Ich wünsche mir, dass mehr Menschen verstehen, wie Trauma funktioniert und welche Folgen Trauma haben kann, für jeden Einzelnen aber ebenso für unsere Gemeinschaft. Denn nach einem Trauma verhältst du dich anders, und das beeinflusst auch dein Umfeld. Dein Gehirn definiert viel mehr Reize als bedrohlich. Es kann sein, dass du deshalb schneller aggressiv reagierst oder auch dich schnell überfordert fühlst und resignierst.
Von beidem sehen wir viel zu viel, wenn wir Nachrichten hören oder die Zeitung aufschlagen. Ich glaube, dass wir fast alle, in unterschiedlicher Schwere, von Trauma betroffen sind. Vor allem für ein Entwicklungstrauma braucht es angesichts der geringen Stresstoleranz von Kindern nicht viel, um Angst, Hilflosigkeit und Überwältigung zu empfinden.
Ich möchte Menschen ermutigen, sich ihren emotionalen Verletzungen zuzuwenden, um sie zu heilen. Für ihr eigenes Wohlbefinden, um sie nicht unbewusst weiterzugeben an ihre Kinder und für ein freundlicheres Miteinander.
Da mir Aufklärung am Herzen liegt, schreibe ich in diesem Beitrag nochmals darüber
- dass einem Trauma eine Veränderung in deiner Biologie, deinem Nervensystem zugrunde liegt
- dass sowohl seelische als auch körperliche Erkrankungen sowie bestimmte Verhaltensmuster eine Folge von Trauma sein können
- dass es für ein Entwicklungstrauma nicht zwingend körperliche oder sexuelle Gewalt braucht
- dass vermeintlich „harmlose“ Bemerkungen wie „Du bist immer so empfindlich“ unter emotionale Gewalt fallen
- dass der zweite Weltkrieg ein kollektives Trauma war und wir noch immer unter den Folgen leiden
- dass du beginnst zu heilen, wenn du dir erlaubst zu fühlen
Trauma gehört zum Leben, es muss jedoch keine lebenslange Bürde sein.
Dr. Peter Levine
Trauma verändert dein Nervensystem
Traumatischer Stress entsteht, wenn du dich bedroht und gleichzeitig ohnmächtig und ausgeliefert fühlst. Ab einem bestimmten Level an innerer Aufregung, legt dein Nervensystem einen Schalter um, und du erstarrst, stellst dich tot.
Trauma betrifft nicht nur die anderen. Es entsteht nicht nur durch große Katastrophen und physische oder emotionale Gewalt. Trauma ist auch keine Schwäche, sondern eine durch sehr großen oder lange anhaltenden Stress ausgelöste Veränderung in deinem autonomen Nervensystem. Im Augenblick der Gefahr ist das eine wirkungsvolle Schutzreaktion. Schwierig wird es, wenn diese Schutzreaktion kein Ende findet. Die Folge daraus ist ein konstantes inneres Gefühl von Gefahr, das sich nicht von alleine beruhigt.
Du blickst mit anderen Augen auf die Welt und bewertest Menschen und Situationen schneller als potentiell bedrohlich. Vielleicht entwickelst du spezifische oder generelle Ängste, vielleicht bist du wütend auf Gott und die Welt, vielleicht zeigen sich depressive Stimmungen.
Viele Menschen leiden unter Traumafolgen, ohne sich dessen bewusst zu sein
Aus einer Traumaperspektive auf deine Verhaltensmuster oder Symptome zu schauen kann entlastend sein. Du musst dann nicht länger das Gefühl haben, mit dir stimme etwas nicht. Außerdem eröffnet diese Perspektive neue Heilungswege.
Hier sind 8 Beispiele, wie sich traumatischer Stress zeigen kann:
- es fällt dir schwer, Nähe zu anderen Menschen zuzulassen und Vertrauen zu fassen
- du reagierst sehr schnell mit Aggression
- oder das Gegenteil: du hast kaum einen Zugang zu deiner Wut
- du musst dich laufend beschäftigen, um die Unruhe im Kopf oder im Körper nicht spüren zu müssen
- Entspannung fühlt sich für dich bedrohlich an
- du glaubst, nicht gut genug zu sein und kompensierst das mit Perfektionismus und Leistung
- du kämpfst mit Ängsten oder Depression
- du leidest unter chronischen Schmerzen oder anderen chronischen Erkrankungen (Rheuma, Fibromyalgie, Erschöpfung, e.t.c.)
Chronischer Stress beeinträchtigt dein Immunsystem. Dadurch kann er nicht nur ursächlich für seelische, sondern ebenso für körperliche Erkrankungen wie Autoimmun, Herzkreislauf oder Krebs sein.
Das Psychische und das Immunologische sind eins.
Prof. Dr. med. Christian Schubert
Chronischer früher Stress wird zum Entwicklungstrauma
Stress ist eine subjektive Erfahrung. Nicht jede Situation wird von allen als gleich stressig erlebt. Während der eine, wenn er beim Vortragen den Faden verliert, charmant darüber hinweggehen kann, gerät ein anderer in Panik.
Besonders anfällig für Stress und Überforderung sind Babys und Kinder, weil sie, schon rein biologisch, noch nicht über ein Nervensystem verfügen, das sich von alleine beruhigen kann. Sie haben null Kapazität, schwierige Momente wie Hunger oder Angst oder Schmerz zu halten und geraten entsprechend schnell in einen Zustand von großer Not, wenn Erwachsene sich nicht liebevoll kümmern können oder wollen.
Daher sind Kindheitserfahrungen sehr entscheidend für die Ausprägung der persönlichen Resilienz. In diesem Zusammenhang werden die Auswirkungen und die Bedeutung von Entwicklungstrauma deutlich.
Dass körperliche, sexuelle oder emotionale Gewalt ein Entwicklungstrauma verursachen, versteht sich von selbst. Das gilt auch für Schicksalsschläge und Verluste. Oder für Krankheiten und Krankenhausaufenthalte ohne Besuch. Bis in die 70er-Jahre war es Eltern verboten, ihre Kinder zu besuchen, „um die Heilung nicht zu stören“. Da fehlen mir wirklich die Worte.
Traumatischen Stress können Kinder jedoch ebenso erleben, wenn die Eltern chronisch gestresst und emotional nicht verfügbar sind. Vielleicht gibt es Probleme in der Partnerschaft, finanzielle Schwierigkeiten, ständige Sorge um ein Geschwisterkind oder andere Ängste. Fehlende Einstimmung auf die Bedürfnisse des Kindes, aus welchem Grund auch immer, überfordert ein kindliches Nervensystem und trägt maßgeblich zur Entstehung eines Entwicklungstraumas bei.
Emotionale Gewalt ist ebenso traumatisierend wie physische Gewalt
Weniger Bewusstsein gibt es meiner Erfahrung nach für emotionale Gewalt. Emotionale Gewalt hinterlässt keine sichtbaren Spuren, keine blauen Flecke oder Blutergüsse und ist schwer zu beweisen. Das Perfide daran ist, dass sie Menschen an sich selbst zweifeln lässt. Emotionale und physische Gewalt werden übrigens teilweise in denselben Gehirnregionen verarbeitet.
Emotionale Gewalt drückt sich etwa in Sätzen aus wie den folgenden:
- stell dich nicht so an
- das bildest du dir ein
- du bist immer so empfindlich
- reiß dich zusammen
- du bist zu dumm dazu
Je nachdem, in welcher Dosis du diese und ähnliche Aussagen in deiner Kindheit gehört hast, machen sie dir als Erwachsene das Leben schwer. Menschen übernehmen oft Sätze, die sie in ihrer Kindheit gehört haben und sagen sie sich später selbst.
Krieg ist ein kollektives Trauma
Trauma wird über Generationen weitergegeben und Krieg ist ein kollektives Trauma! Nach dem zweiten Weltkrieg hat sich kaum jemand um seine emotionalen Verletzungen, seine Trauer, seine Angst, vielleicht seine Schuldgefühle gekümmert. Im Gegenteil! Angesagt waren Wiederaufbau, Nachvorneschauen und Vergessen. Die Journalistin und Autorin Sabine Bode hat viel über die Folgen daraus für Kriegskinder und Kriegsenkel recherchiert und geschrieben.
Trauma wird epigenetisch und über Erziehung weitergegeben, wenn Menschen nicht daran arbeiten, die eigenen Verletzungen zu heilen, wirkt sich das auf die Kinder und nachfolgende Generationen aus.
Emotionen fühlen und heilen
Ich möchte Menschen ermutigen, ihre Emotionen wieder zu fühlen. Du spaltest Emotionen ab, wenn diese zu schmerzlich sind. Das ist erstmal ein guter Mechanismus, schließlich schützt er dich. Gleichzeitig verlierst du so einen Teil von dir selbst und von deiner Lebendigkeit.
Emotionen haben immer einen Grund und eine Berechtigung. Und sie sind immer da, selbst dann, wenn du sie nicht fühlst. Ohne dass dir das bewusst ist, beeinflussen sie dann aus dem Untergrund deine Gedanken und dein Verhalten.
Dich mit deiner eigenen Verletzlichkeit auseinanderzusetzen und Trauer, Angst, Wut, Scham oder Ohnmacht zu fühlen erfordert Mut. Es kann sein, dass es dir erstmal damit nicht besser geht, schließlich fühlst du nun das, was du ja aus einem guten Grund weggedrückt hast. Du kannst jedoch deine Fähigkeit, diese Emotionen zu tolerieren und dasein zu lassen vergrößern. Damit gewinnst du die Kontrolle über deine Handlungen und dein Leben zurück.
Emotionale Verletzungen können heilen, wenn sie gefühlt, benannt und mitfühlend gesehen werden.
Die Welt könnte friedlicher sein
Ich glaube, dass die Welt friedlicher wäre, wenn alle Menschen sich um ihre Kränkungen kümmerten. Wenn Frauen lernten, Grenzen zu setzen und wenn Männer lernten, dass Emotionalität und Verletzlichkeit keine Schwäche, sondern normale menschliche Erfahrung sind.
Das Verhalten jeden Menschens wird beeinflusst von der Brille, durch die er auf die Welt schaut. Wer überreicht ihm oder ihr diese Brille? Es ist der jeweilige Zustand des autonomen Nervensystems, der die passende Brille zur Verfügung stellt. Fühlt sich dein Gegenüber gerade sicher, bedroht oder ohnmächtig? Dich das zu fragen, hilft das Bedürfniss hinter dem jeweiligen Verhalten zu sehen. Und wenn du das Bedürfniss sehen und verstehen kannst, verändert das vielleicht deine Reaktion.
Trauma verhindert, dass wir uns in uns selbst und unserem Körper sicher fühlen. Keine kognitive Erkenntis der Welt kann dein Nervensystem vom Gegenteil überzeugen, wenn es sich gerade bedroht fühlt. Traumaheilung kann es in dir friedlicher machen und einen friedlicheren Kontakt mit Familie, Freunden und der Welt ermöglichen.
Ich freue mich, wenn du einen Kommentar hinterläßt und mir deine Erfahrungen schreibst.
