Poly – was??? Zugegeben, ein sperriger Name, aber ein faszinierender Inhalt. Die Polyvagal-Theorie begeistert mich schon lange.
Mein neuer Blogbeitrag ist für dich, wenn du oft im Stress bist – und wer ist das nicht? -, wenn es dir fast unmöglich ist, innerlich zur Ruhe zu kommen, wenn du Schweres erlebt hast, wenn du unter chronischen Schmerzen oder an chronischen Krankheiten leidest oder wenn andere Symptome dich beeinträchtigen, die nicht besser werden wollen.
Die Polyvagal-Theorie lässt deine autonomen Reaktionen auf Stress und Bedrohung in einem neuen Licht erscheinen. Deine Verhaltensmuster und Symptome, körperliche genauso wie seelische, werden im polyvagalen Kontext anders verstehbar. Verstehbar wird dadurch auch, welche Faktoren dir helfen können zu heilen.
Schau gerne ins Inhaltsverzeichnis, welcher Aspekt spricht dich an? Du findest hier Informationen zum autonomen Nervensystem und zur Theorie, inkl. eines alltäglichen Beispiels. Ich gehe auf die Bedeutung der Polyvagal-Theorie für die Traumatherapie und Heilung von Trauma ein, das liegt mir vor allem am Herzen, und ich zeige dir fünf Übungen, um dein autonomes Nervensystem zu beruhigen.
Was ist die Polyvagal-Theorie in Kürze?
Die in langjähriger Forschungsarbeit formulierte Polyvagal-Theorie des amerikanischen Neurowissenschaftlers Psychiaters Dr. Stephen Porges wirft ein neues Licht auf die Funktionsweise deines autonomes Nervensystems (ANS) und deine Stressreaktion. Insbesondere für das Verständnis und die Behandlung traumatischer Erlebnisse ist sie von großer Bedeutung.
Drei wesentliche Erkenntnisse stehen dabei im Vordergrund:
- Von dir völlig unbemerkt, überprüft dein autonomes Nervensystem ständig, ob du gerade sicher bist, in Gefahr oder sogar in Lebensgefahr. Stephen Porges prägte dafür den Begriff Neurozeption. Welche Nervenbahnen deines autonomen Systems überwiegend aktiv sind, hängt vom Ergebnis dieser Einschätzung ab.
- Insgesamt besteht dein autonomes Nervensystem aus drei Anteilen, die drei Reaktionsweisen ermöglichen: ventraler Vagus (Sicherheit und Entspannung), Sympathikus (Mobilisierung, Kampf / Flucht) und dorsaler Vagus (Erstarrung). Kampf oder Flucht einerseits und Erstarrung, auch freeze oder Totstellreflex genannt, andererseits, sind Schutz- und Verteidigungsreaktionen. Die drei Reaktionsmöglichkeiten unterliegen einer Hierarchie. In die Erstarrung geht dein Körper erst, wenn Kampf oder Flucht unmöglich sind.
- Für uns Menschen sind ein sicheres Miteinander und soziale Verbundenheit essentiell. Unsere autonomen Nervensysteme vergewissern sich gegenseitig, dass keine Gefahr droht. Stephen Porges spricht hier von Co-Regulation, die sozialen Kontakt erst ermöglicht. Erlebte Co-Regulation in der Kindheit befähigt dich später, dich selbst zu regulieren.
Neurozeption: Deine unbewusste Suche nach Hinweisen für Sicherheit oder Gefahr
Ohne Unterlass ist dein autonomes Nervensystem auf der Suche nach Hinweisen für Sicherheit, Gefahr oder Lebensgefahr. Stephen Porges bezeichnet diese Suche als Neurozeption. Neurozeption erfolgt unter deinem Radar, d. h. du bist dir ihrer nicht bewusst und du kannst sie willentlich nicht beeinflussen.
Dein Verstand wird nicht nach seiner Einschätzung gefragt. Es ist daher keine Seltenheit, dass dein autonomes Nervensystem etwas als gefährlich einstuft und deinen Körper daraufhin in eine Stressreaktion bringt, obwohl objektiv betrachtet im Außen gerade keine Gefahr besteht. Kognitiv weißt du das genau, nur hilft dir diese Erkenntnis nicht, deinen Körper zu beruhigen.
Hinweise für Sicherheit, Gefahr oder Lebensgefahr zieht dein Nervensystem aus deiner Umgebung, aus deinem Inneren und aus zwischenmenschlichen Begegnungen.
- Informationen aus deiner Umwelt sind solche, die du mit deinen Sinnen aufnimmst. Der Anblick und Duft einer Rosenblüte oder das Gluckern eines ruhigen Bachlaufs vermitteln Sicherheit, der Anblick und das Knurren eines zähnefletschenden Hundes nicht. Auch ein lauter Knall oder der Geruch von Feuer signalisieren dir, dass da etwas nicht in Ordnung sein könnte und dein Körper bereitet dich darauf vor aktiv zu werden: fliehen oder kämpfen. Vielleicht reagiert dein Körper aber auch alarmiert auf ein blau dekoriertes Schaufenster, weil du zuvor einen Unfall mit einem blauen Auto hattest und für dein Nervensystem die Farbe blau seitdem mit Gefahr verknüpft ist. In diesem Fall fühlst du dich bedroht, bekommst vielleicht sogar eine Panikattacke, obwohl im Außen gerade keine tatsächliche Gefahr ist.
- Informationen kommen ebenso aus deinem Inneren, von deinen Organen und Muskeln. 80 % der Information, die Körper und Gehirn über den Vagusnerv (von dem erzähle ich gleich mehr) austauschen, fließen vom Körper zum Gehirn.
Viele Menschen sind dauerhaft im Stress und können sich kaum entspannen. Das zeigt sich z. B. in Gedanken, die nicht zur Ruhe kommt, flacher Atmung und chronisch angespannter Muskulatur. Diese Anspannung wiederum wird durch einen Feedback-Mechanismus an dein Gehirn zurückgemeldet. Dein Gehirn zieht daraus den Schluss, dass es jetzt gerade ja wohl gefährlich sein muss, weil du so angespannt bist und die Luft anhältst und initiiert erneut eine Stressreaktion, die dich wieder anspannen lässt. Dadurch wird der Stresskreislauf aufrecht erhalten, es ist ein Teufelskreis. - Informationen von Nervensystem zu Nervensystem: Wir sind soziale Wesen und wir brauchen sicheren Kontakt zu anderen Menschen. Lachfältchen bei unserem Gegenüber werden beispielsweise als sicher interpretiert, während ein mit Botox aufgespritztes Gesicht für unser Nervensystem nicht zu lesen ist und tendenziell eher als unsicher eingestuft wird. Unsere Nervensysteme kommunizieren miteinander. Bist du selber gestresst, dein Gegenüber dagegen ist die Ruhe selbst, so hat das auf dein Nervensystem einen beruhigenden Effekt. Vor allem Babys sind darauf angewiesen, von Eltern oder anderen Bezugspersonen beruhigt zu werden, weil sie das noch nicht allein können. Hier greift die sogenannte Co-Regulation.
- Dein Nervensystem kommuniziert ebenso mit dem Nervensystem anderer Säugetiere. Deshalb haben Tiere auf uns oft so eine beruhigende Wirkung.
Die Aufgabe deines autonomen oder vegetativen Nervensystems ist es, dein Überleben zu sichern
Wie der Name schon sagt, arbeitet dein autonomes Nervensystem autonom und es hat immer dein Überleben im Sinn: Es sorgt dafür, dass dein Herz schlägt und es reguliert Blutdruck, Atmung, Stoffwechsel, Immunsystem und Fortpflanzung. Bei Gefahr initiiert dein autonomes Nervensystem eine Stressreaktion, mobilisiert Energie und ermöglicht dir so, dich durch Kampf, Flucht oder Erstarrung zu retten.
Dein autonomes Nervensystem besteht aus zwei Anteilen, dem parasympathischen Nervensystem und dem sympathischen Nervensystem.
Bisheriges Verständnis: dein parasympathisches Nervensystem sorgt für Ruhe und Entspannung
Vielleicht hast du einmal dasselbe gelernt wie ich: das autonome Nervensystem besteht aus zwei Nervensträngen, die miteinander wie Gas- und Bremspedal funktionieren:
- Dein sympathische Nervensystem mobilisiert dich, versorgt dich mit Energie. Die brauchst du, um deinen Alltag zu bewältigen: einkaufen, zur Arbeit fahren, Sport treiben usw. Energie brauchst du aber vor allen Dingen, wenn du in Gefahr bist. Dann ermöglich dir dein sympathisches Nervensystem Kampf oder Flucht.
- Dein parasympathisches Nervensystem sorgt für Ruhe und Erholung. Dieses bisherige Verständnis des autonomen Nervensystems reduziert den Parasympathikus auf einen Zustand von Entspannung. Die Polyvagal-Theorie zeigt, dass das zu kurz gegriffen ist.
Polyvagale Erkenntnis: Dein Parasympathikus besteht aus zwei Anteilen und ermöglicht sowohl Entspannung als auch Erstarrung
Frei nach Roberto Blanco: Nicht nur ein bisschen Spaß, auch ein bisschen Theorie muss sein und diese hier ist wirklich spannend:
Der Hauptdarsteller deines parasympathischen Nervensystems ist dein Vagusnerv, dein 10. Gehirnnerv. Das ist erstmal nicht neu.
Neu ist, dass dieser Vagusnerv aus zwei separaten Nervenbahnen besteht, die unterschiedliche Organe versorgen und dazu gänzlich verschiedene Funktionen erfüllen! Daher der Name Polyvagal-Theorie: poly kommt aus dem Griechischen und bedeutet viel. Es gibt also zwei Nervenbahnen des Vagusnervs!
Stephen Porges unterscheidet zwischen dem dorsalen und dem ventralen Vagus. Beide entstehen in deinem Stammhirn oder Hirnstamm: der dorsale ist der rückwärtige und der ventrale ist der vordere Zweig deines Vagusnervs.
„Im Hirnstamm werden praktisch alle Informationen aus dem Körper gesammelt und alle Signale aus dem Gehirn gelangen von hier aus in den Körper. Der Hirnstamm ist also von fundamentaler Bedeutung für alle anderen Prozesse.“ („Die Polyvagal-Theorie“, Stephen W. Porges, S. 95.)
Welche Rolle spielt der ventrale Vagus in der Polyvagal-Theorie?
Entwicklungsgeschichtlich gesehen ist der ventrale Vagus der jüngste Teil deines autonomen Nervensystems. Außer uns Menschen besitzen ihn nur andere Säugetiere.
Wenn du dich sicher, entspannt und kompetent fühlst, dann ist dein ventraler Vagus aktiv.
Er versorgt Organe und Strukuren, die oberhalb deines Zwerchfells liegen, d. h. deinen Kehlkopf und Rachen, deine Speiseröhre, deine Lunge und den Schrittmacher deines Herzens. Er ist auch verbunden mit den Nerven, die für Mimik und Gehör zuständig sind.
Der ventrale Vagus ist von einer Myelinschicht (Fettschicht) umhüllt, die dafür sorgt, dass Signale schnell und präzise weitergeleitet werden. Diese Myelinschicht ist noch nicht vollständig bei deiner Geburt, sondern entwickelt sich bis zur Adoleszenz. Chronischer oder traumatischer Stress in der Kindheit wirken sich daher besonders negativ aus, weil dein Nervensystem noch nicht voll leistungsfähig ist.
Welche Rolle spielt der dorsale Vagus in der Polyvagal-Theorie?
Der dorsale Vagus ist der älteste Teil deines autonomen Nervensystems. Sogar Reptilien oder Fische verfügen darüber.
Der dorsale Vagus lässt dich bei Lebensgefahr bewegungslos werden oder erstarren. Er kommt ins Spiel als letzte Überlebenschance, wenn Kampf oder Flucht nicht möglich sind.
Dein dorsaler Vagus versorgt die Organe und Drüsen unterhalb deines Zwechfells, also alle Verdauungsorgane, Leber und Nieren, aber auch deine Lunge sowie den Schrittmacher des Herzens und deine Herzmuskulatur.
Der dorsale Vagus ist langsamer als der ventrale Vagus. Er braucht länger, bis er aktiviert ist, er ist weniger präzise und er beruhigt sich nicht so schnell wieder.
Wie verläuft die Stressreaktion nach der Polyvagaltheorie?
Laut Polyvagal-Theorie verfügt dein autonomes Nervensystem also über drei Anteile, die drei unterschiedliche Zustände hervorrufen können: deinen ventralen Vagus, dein sympathisches Nervensystem und deinen dorsalen Vagus!
Welche Nervenzellen überwiegend aktiv sind und feuern, hängt von der Einschätzung deines autonom Nervensystems ab, ob der jeweilige Moment sicher, gefährlich oder lebensgefährlich ist.
Diese drei körperlichen Zustände gehen einher mit bestimmen Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen: je nachdem welcher Teil überwiegend aktiv ist, denkst, fühlst und handelst du anders.
Bei Gefahr ist dein Verstand mehr oder weniger abgemeldet. Dein Körper übernimmt und deine Biologie ist darauf programmiert, sich zu verteidigen, das suchst du dir nicht aus. Es ist wichtig zu verstehen, dass du hier keine bewusste Entscheidung treffen kannst. Dein autonomes Nervensystem übernimmt bei einer gefühlten Bedrohung das Ruder, während dein Verstand gewissermaßen offline geht.
Ventraler Vagus – gefühlte Sicherheit ermöglicht Verbindung mit anderen Menschen
Stell dir vor, du triffst dich mit einer Freundin und ihr seid in ein gutes Gespräch vertieft. Du bist daran interessiert, was sie zu erzählen hat, hörst aufmerksam zu und hältst entspannten Blickkontakt. In so einem Augenblick ist überwiegend dein ventraler Vagus aktiv.
Im ventralen Vagus fühlst du dich mit dir und anderen Menschen verbunden. Du hast ein Gefühl von „ich kann“ und deine Körperhaltung ist offen und entspannt.
Dein ventraler Vagus fördert Gesundheit, Genesung und soziales Verhalten. Du bist gelassen, es werden keine Stresshormone ausgeschüttet, dein Herz schlägt ruhig und dein Immunsystem arbeitet optimal.
Sympathikus ermöglicht aktive Verteidigung durch Kampf oder Flucht
Wenn jetzt etwas Unerwartetes geschieht, z. B. ein lauter Knall, dann fährt automatisch dein sympathisches Nervensystem hoch. Du erschrickst, orientierst dich schnell, woher das Geräusch kommt. Dein Körper mobilisiert Energie und versetzt dich damit in die Lage, dein Leben gegebenenfalls durch Kampf oder Flucht zu retten.
Deine Nebennieren schütten die Stresshormone Adrenalin und Cortisol aus, deine Muskulatur in Armen und Beinen wird verstärkt durchblutet, Herzschlag und Atmung beschleunigen sich. Nicht lebensnotwendige Funktionen wie Verdauung, Immunsystem oder Fortpflanzung werden – vorübergehend – heruntergefahren.
Bist du in Angst, aufgeregt und gestresst, hektisch oder in Panik, ist überwiegend dein sympathisches Nervensystem aktiv.
Du hast ein Gefühl von „ich muss“ und deine Körperhaltung ist angespannt.
Dorsaler Vagus ermöglicht passive Verteidigung durch Erstarrung
Bei gefühlter Lebensgefahr schaltet dein Körper automatisch auf passive Verteidigung um.
Sind Kampf oder Flucht nicht möglich, greift der dorsaler Vagus und veranlasst einen passiven Verteidigungsmechanismus: du gehst in die Immobilisation und erstarrst oder kollabierst. Du bist bewegungsunfähig! Als letzte Überlebensmöglichkeit aktiviert dein System diesen sogenannten Totstelleffekt, in der Hoffnung, dass der Jäger von seiner Beute ablässt.
Dein Energieverbrauch wird reduziert, Herzschlag und Atmung verlangsamen, Körpertemperatur verringert sich. Dein Körper schüttet jetzt Endorphine aus, das ist körpereigenes Morphium, so dass du keine Schmerzen spüren musst.
Wenn du dich starr vor Schreck fühlst oder wie betäubt bist, ist dein dorsaler Vagus aktiv.
Dein Grundgefühl ist „ich kann nicht“ und deine Körperhaltung ist kollabiert.
Die Polyvagaltheorie anhand eines alltäglichen Beispiels
Die Geschichten, die du dir selbst über dich und dein Leben erzählst, fallen anders aus, je nachdem in welchem Zustand du gerade bist. Feuern überwiegend die Nervenzellen vom ventralen Vagus, dann bist du sicher genug, um auf andere zuzugehen, ohne dich sofort bedroht zu fühlen, z. B. von einer gegenteiligen Meinung. Bist du eher im Kampf / Flucht Modus, reagierst du schnell genervt und gereizt oder hast Angst und überwiegt dein dorsaler Vagus ziehst du dich zurück, bist mutlos und ohne Energie.
Die Psychologin Deb Dana bat kürzlich ihren Interviewpartner, eine nicht zu schwierige Herausforderung zu wählen und diese aus Sicht der drei Zustände im Nervensystem zu betrachten. Er wählte als Thema eine Deadline einhalten!
Deadline einhalten sympathisch: Ich muss!
Du bist gestresst, frustriert, stehst unter Druck, hast Angst.
Deine Körperhaltung: angespannt, die Schultern sind hochgezogen, flache Atmung.
Deine Gedanken: Zähne zusammenbeißen und durch, reiß dich zusammen, Pause kann ich mir nicht erlauben, die haben eh immer was zu meckern, ich kriegs irgendwie hin, aber bestimmt nicht gut.
Deadline einhalten dorsal vagal: Ich kann nicht!
Du fühlst dich völlig überfordert, bist hoffnungslos und ohne Energie, siehst keine Möglichkeit, rechtzeitig fertig zu werden.
Deine Körperhaltung: schlaff und zusammengesunken, die Schultern runden sich nach vorne, der Brustkorb ist eingesunken und du kannst nicht gut atmen.
Deine Gedanken: das schaffe ich eh nicht, ich vermassele es sowieso wieder, das brauche ich gar nicht erst versuchen, ich nerve eh nur alle.
Deadline einhalten ventral vagal: Ich kann!
Du bist konzentriert, ruhig und geerdet und fühlst dich kompetent und zuversichtlich.
Deine Körperhaltung: entspannt aufrecht.
Deine Gedanken: Ich werde die Aufgabe rechtzeitig erledigen und sie wird gut genug sein.
Chronischer Stress und Trauma halten dich in einem Zustand von gefühlter Gefahr oder Lebensgefahr
Die Stressreaktion ist als eine kurzfristige Reaktion auf eine akute Bedrohung gedacht. Dein Körper ist dafür geschaffen, sich bei Gefahr zu verteidigen, um wieder zur Ruhe zu kommen, sobald die Gefahr vorüber ist.
Chronischer Stress und Trauma führen dazu, dass du in einem mobilisierten Zustand von Kampf / Flucht oder Erstarrung stecken bleibst und dein Körper nicht zurück in die Entspannung und Sicherheit findet. Das ist so, als säße der Säbelzahntiger tagtäglich neben dir auf dem Sofa.
Was ist ein Trauma?
Wir sprechen von einem Trauma, wenn zu viel, zu schnell, zu plötzlich auf dich einstürmt, du vor Angst überwältigt bist und keine Handlungsmöglichkeiten hast. Ein Trauma ist nicht das Ereignis als solches, ein Trauma ist die daraus resultierende Veränderung und Dysregulation deines Nervensystems. Ein Trauma ist die Tatsache, dass du dich danach nicht mehr sicher fühlst und das Geschehene nicht als vergangen abspeichern kannst, sondern es sich anfühlt, als bestünde die Gefahr weiterhin.
Wie beeinflussen chronischer Stress und Trauma dein Leben?
Der normale Wechsel zwischen An- und Entspannung funktioniert nicht mehr. Es überwiegen sympathische oder dorsal-vagale Aktivierung und der Weg zurück in den ventralen Vagus und die damit verbundene Sicherheit ist verbaut.
Ein Nervensystem, dass sich überwiegend in Gefahr wähnt, nimmt die Welt anders wahr, als ein Nervensystem, das sich überwiegend sicher fühlt. Je nach innerem Zustand hast du andere Gedanken, andere Gefühle und verhältst dich anders. Durch chronischen Stress und Trauma bleibst du in einem Zustand von Gefahr oder Lebensgefahr. Somit bestimmt schlussendlich deine Biologie, wie du auf die Welt reagierst.
Bist du über einen längeren Zeitraum in so einem dysregulierten Zustand, können körperliche und / oder seelische Symptome die Folge sein!
„Es geht nicht einerseits um innere Medizin und andererseits um Psychologie und Psychiatrie, sondern um eine all dies umfassende Physiologie, die nicht nur Gesundheit, Entwicklung und Genesung, sondern auch die soziale Interaktion fördert, um dem Individuum das Erleben von Sicherheit zu ermöglichen.“ (Stephen W. Porges, Die Polyvagal-Theorie, S. 99)
Welchen Nutzen hat die Polyvagal-Theorie für die Traumatherapie?
Die Polyvagal-Theorie gibt neurophysiologische Erklärungen für das, was bei Trauma in deinem Körper passiert und zeigt einen plausiblen Weg, der Heilung ermöglicht.
Für deine Heilung und die Regeneration von Körper und Seele ist es essentiell, den ventralen Vagus zu stärken, damit du dich in dir wieder sicher fühlen kannst.
„Ein solches Gefühl von Sicherheit ist die Behandlung“ (Stephen W. Porges, „Die Polyvagaltheorie“, S. 135.)
Die gute Nachricht ist, dass dein Nervensystem lernen kann, sich wieder sicher zu fühlen.
Ein polyvagaler Blick auf die Traumatherapie Somatic Experiencing und die Faszientherapie Rolfing
Die körperorientierte Traumatherapie Somatic Experiencing hilft dir, mehr Sicherheit zu erleben und im Körper gespeicherte traumatische Energie zu lösen. Du lernst, dich deinem Körper wieder zuzuwenden, dein Nervensystem zu regulieren und hohe Anspannung und schwierige Emotionen zu halten.
Wahrzunehmen, welche Stelle im Körper sich gerade zumindest ok anfühlt und dabei einen Augenblick zu verweilen, sind erste Schritte. Vielleicht sind es anfangs nur dein rechter Daumen oder dein linkes Ohrläppchen. Diese kleinen sicheren Inseln können sich nach und nach vergrößern und dein Nervensystem macht dadurch neue, korrigierende, körperlich erlebte Erfahrungen. Dadurch verlieret Altes seine Macht über dich.
Auch die Faszientherapie Rolfing ist eine wirkungsvolle Maßnahme. Deine Faszien kommunizieren mit deinem autonomen Nervensystem und eine Rolfing-Behandlung reduziert Stress und Anspannung.
Rolfing ist weniger symptombezogen, sondern hat explizit die Absicht, deine Körperhaltung zu verändern, deine Beweglichkeit zu verbessern und deine Aufrichtung zu unterstützen. Kommst du in einer Rolfing Sitzung aus einer dorsal vagalen, zusammengesunken Haltung oder einer sympathisch angespannten Haltung in eine lockere, aufrechte Haltung, meldet das über Feedback Mechanismen deinem Gehirn, dass gerade weder Gefahr noch Lebensgefahr bestehen. Das macht den Weg frei für den ventralen Vagus.
Die Polyvagal-Theorie bei chronischen Schmerzen und Erkrankungen
Gibt es keine strukturelle Ursache für deine dauernden Schmerzen, dann ist mit großer Wahrscheinlichkeit eine Alarmiertheit in deinem autonomen Nervensystem daran beteiligt, den Schmerzkreislauf aufrecht zu erhalten. Vielleicht sitzt dir noch der Schreck des Unfalls in den Knochen, auch wenn die Verletzung ausgeheilt ist, oder eine Erkrankung hat dein inneres Selbstverständnis von „ich bin gesund“ erschüttert. Vielleicht hast du Angst, dein Leben nicht mehr wie gewohnt leben zu können. Die Angst vor dem Schmerz und der Kampf gegen den Schmerz halten ihn am Leben. Hierbei ist vermehrt dein sympathisches oder dorsal-vagales Nervensystem aktiv.
Wenn der ventrale Vagus dominiert, ist dein Körper nicht mit aktiven oder passiven Abwehrmechanismen beschäftigt. Davon profitieren alle anderen Systeme im Körper wie dein Immunsystem, deine Verdauung, dein Hormonsystem und dein Herz-Kreislaufsystem.
Auch chronische Erkrankungen wie das Chronische Erschöpungssyndrom (CFS), Fibromyalgie, Borreliose, Verdauungsbeschwerden, Schlafstörungen, Geräuschempfindlichkeit, Ängste oder Depressionen können im Zusammenhang mit einer Dysregulation deines autonomen Nervensystems gesehen werden. Dadurch bietet sich ein neuer, konkreter und vielversprechender Behandlungsansatz.
„Alle diese Symptome hängen mit dem ANS zusammen, und sie können nur auftreten, wenn der neue, myelinisierte Vagus die sympathischen, nicht myelinisierten vagalen Komponenten des ANS nicht adäquat regulieren kann.“ (Stephen Porges, „Die Polyvagaltheorie“ S. 172.)
Wieso die Polyvagal-Theorie Scham und Schuld verringert
Scham und Schuld sind Emotionen, die mit vermehrter Aktivität des dorsalen Vagus verbunden sind.
Fühlst du dich schuldig, weil du dich nicht gewehrt hast? Oder haben dir andere den Vorwurf gemacht, du hättest ja weglaufen können? Schämst du dich dafür?
Bei Bedrohung entscheidet dein autonomes Nervensystem „eigenmächtig“, welche Maßnahme die größte Überlebenschance bietet. Ist es davon überzeugt, dass Kampf oder Flucht im Augenblick nicht erfolgversprechend sind, initiiert es eine Erstarrung. In dem Moment bist du biologisch nicht in der Lage dich zu bewegen! Das zu verstehen ist sehr entlastend für viele Menschen, die sich nach einem Überfall vorwerfen, sich nicht gewehrt zu haben oder weggelaufen zu sein. Dein Körper hat dich nicht verraten, er hat dich geschützt!
„Irgendwann las ich etwas über die Polyvagal-Theorie, und danach hatte ich plötzlich das Gefühl, ich hätte gar nicht anders handeln können, und deshalb weine ich jetzt.“ (Die Polyvagl-Theorie, Stephen W. Porges, S. 127)
Wieso die Polyvagal-Theorie Selbstmitgefühl ermöglicht
Ein Verständnis für die Stressreaktion deines Körpers verändert deinen (abwertenden) Blick auf dein Verhalten. Dein Körper ist nicht gegen dich, im Gegenteil tut er alles, um dein Überleben zu sichern.
Zu erkennen, dass deine Biologie dein Denken und Handeln bestimmt, wirft ein völlig anderes Licht auf deine Reaktionen. Mit dir ist alles in Ordnung, du bist nicht verkehrt. Du hast Schweres erlebt und verdienst dafür Trost und liebevolle Zuwendung. Die darfst du dir selber geben, genauso wie du sie einer lieben Freundin oder einem lieben Freund schenken würdest. Auch Selbstmitgefühl lädt den ventralen Vagus ein.
Was kannst du selber tun, um deinen ventralen Vagus zu stärken?
Grundsätzlich ist alles hilfreich, was dir guttut und Freude macht. Vielleicht hast du ja Lust, im Alltag darauf zu achten, wann dein Körper sich entspannt anfühlt und wann angespannt? In welchen Situationen oder im Kontakt mit welchen Menschen? Was könntest du verändern, um weniger angespannt zu sein?
Nutze die Möglichkeit der Co-Regulation und umgib dich soweit wie möglich regelmäßig mit Menschen oder Tieren, die dir guttun.
Es gibt Übungen, die dir helfen können, dein Nervensystem zu regulieren.
Du kannst sie als regelmäßiges Training in deinen Alltag einbauen, so ähnlich wie Zähne putzen. Sie können dir aber vor allem in schwierigen Momenten helfen, dich wieder zu beruhigen. Zu Wissen, dass du auf diese Übungen zurückgreifen kannst, stärkt deine Selbstwirksamkeit, was wiederum einen beruhigenden Effekt auf dein Nervensystem hat.
Polyvagal-Theorie: 5 Übungen für deinen ventralen Vagus
- Der ventrale Vagus ist mit den Nerven verbunden, die für deine Mimik und das Hören zuständig sind. Darüber ist er auch zu erreichen.
Streich deine Ohren aus: nimm sanft deine Ohrmuscheln zwischen Daumen und Zeigefinger und streich sie mit dem zweiten Fingerglied deines Zeigefingers langsam nach außen aus. Dabei kannst du von oben von der Spitze bis nach unten zum Ohrläppchen wandern und wieder zurück. Mach das ca. 30 Sekunden. - Orientierung gibt Sicherheit. Dein Nervensystem weiss dann, dass der Tiger nicht da ist:
Dreh deinen Kopf langsam von rechts nach links und schau dich um. - Die 5 – 4 – 3 – 2 – 1 – Methode wirkt auf 3 Ebenen: Sie gibt Orientierung, sie bringt dich ins Hier und Jetzt und sie lädt dein denkendes Gehirn, den Neocortex, ein. Der ist ja bei Bedrohung wenig präsent.
Schau dich um und zähle 5 Dinge, die du siehst und danach achte auf 5 Geräusche, die du hörst; in der zweiten Runde zählst du jeweils 4 Dinge die du siehst und 4 Geräusche. Danach 3, dann 2, dann 1 Gegenstand / Geräusch. - Dein autonomes Nervensystem steuert deine Atmung. Gleichzeitig ist die Atmung die einzige Funktion des autonomen Systems, die du bewusst verändern kannst. Auf Herzschlag, Verdauung oder Immunsystem hast du nur einen indirekten Einfluss.
Atme langsam und bewusst aus, du kannst dabei wie durch einen Strohhalm leicht pusten - Singen, summen, seufzen, tönen: Singen ist langsames Ausatmen; singst du in einem Chor, profitierst du gleichzeitig von der sozialen Verbundenheit und kannst dich co-regulieren.
- Bewegung bringt dich aus dem dorsalen Vagus, deshalb ist Bewegung so hilfreich bei Depression. Bist du in der Natur unterwegs oder hast Spaß beim Tanzen, hat das einen weiteren beruhigenden Effekt. Du kannst dich auch ausgiebig dehnen und strecken.
Literatur
Wenn dich die Polyvagal-Theorie genauso fasziniert wie mich, findest du hier weitere Informationen:
Stephen W. Porges: Die Polyvagal-Theorie, Probst Verlag
Deb Dana: Die Polyvagal-Theorie in der Therapie, Probst Verlag
Fazit: Die Bedeutung der Polyvagal-Theorie für die Traumatherapie
Viele Symptome entstehen, wenn dein Körper sich über längere Zeit hinweg bedroht fühlt. Traumatische Erfahrungen sind überwältigende Erfahrungen, die dich ständig in einer hohen Aktivierung oder in einem Zustand der Erstarrung halten. Die Polyvagal-Theorie hat eine große Bedeutung für das Verständnis und die Behandlung von Trauma, weil sie die physiologischen Grundlagen verstehbar macht. Um zu heilen darf dein Nervensystem lernen, dass es sicher ist, aus einem sympathisch oder einem dorsal vagal aktivierten Zustand wieder in einen ventral vagalen Zustand zu kommen. Mit wachsender Sicherheit können Symptome sich verändern.
Als körperorientierte Traumatherapeutin begleite ich dich gerne bei der Aufarbeitung deiner persönlichen Erfahrungen. Es ist es mir wichtig, einen möglichst sicheren äußeren Rahmen für dich zu schaffen und dich zu unterstützen, wieder Sicherheit zu empfinden und in deinem Körper gespeicherte traumatische Energie zu entladen.
Schreib mir eine E-Mail und vereinbare Dein kostenloses Kennenlerngespräch! Du kannst vor Ort oder online mit mir arbeiten! Ich freue mich auf deine Nachricht!