Seit ich vor Jahren die Ausbildung in Somatic Experiencing (SE) gemacht habe, fasziniert mich diese feine und langsame Arbeit mit dem autonomen Nervensystem. Körper, Seele und Geist bilden eine Einheit und können nicht losgelöst voneinander betrachtet werden. Die berührenden Prozesse, die ich begleiten durfte, sowie die kleinen Veränderungen im Nervensystem, die oft nach einer Sitzung zu beobachten sind, bestärken mich darin, hier eine optimale Methode gefunden zu haben. Darüber hinaus ergänzt sie sich wunderbar mit Rolfing, meinem zweiten Standbein.
Was genau mir an Somatic Experiencing so gut gefällt, darum geht es hier in diesem Blogbeitrag. Schau doch mal rein!
Ein Trauma liegt nicht im Ereignis, sondern in deiner Reaktion auf dieses Ereignis
Es gibt unterschiedliche Definitionen von Trauma. Nach dem Verständnis von Somatic Experiencing liegt das Trauma nicht im Ereignis. Ein Trauma entsteht, wenn zu viel, zu schnell, zu plötzlich passiert und du vor Angst und Schreck nicht mehr handlungsfähig bist. Dabei geht es um eine subjektive Erfahrung, die von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich sein kann. Zwei Menschen erleben den gleichen Autounfall, aber nur einer wird davon traumatisiert. Ein Trauma ist also nicht das Ereignis als solches, sondern die Reaktion deines Nervensystems auf dieses Ereignis.
Mir gefällt daran, dass dein persönliches Erleben ernst genommen wird. Du kannst unter Traumafolgeströungen leiden, auch wenn es „nur ein Blechschaden“ war. Du kannst darunter leiden, dass du dein Kind während Corona ohne Unterstützung deines Mannes zur Welt bringen musstest, auch wenn „das Kind doch gesund ist“.
Vielleicht hast du etwas erlebt, von dem du sogar selber denkst „so schlimm war das war doch gar nicht“, – wir selber sind ja oft besonders streng mit uns – trotzdem lässt es dich nicht los. Dein Verstand sagt das eine, aber dein Körper spricht eine ganz andere Sprache. Somatic Experiencing nimmt das ernst, was Dein Körper zu sagen hat.
Traumatischer Stress wird im Nervensystem gespeichert und kann entladen werden
Dr. Peter Levine hat vor Jahren erkannt, dass Tiere in freier Wildbahn den Stress lebensbedrohlicher Situationen buchstäblich abschütteln. Diese Erkenntnis ist in die Entwicklung von SE eingeflossen.
Das Tolle ist, das wir Menschen chronischen oder traumatischen Stress über körperliche Reaktionen ebenso entladen können. Spontane tiefe Atemzüge, gähnen, schwitzen, Tränen oder zittern können Stress lösen bzw. verhindern, dass er sich im Körper überhaupt erst festsetzt. Grundsätzlich ist dein Nervensystem sehr flexibel, d. h. es wechselt ständig zwischen An- und Entspannung hin und her. Das ist ein völlig natürlicher Vorgang. Diese Flexibilität geht durch ein Trauma verloren, dein Nervensystem bleibt in der Anspannung stecken. Problematisch ist nicht, dass du überhaupt in eine Anspannung gehst, problematisch wird es erst, wenn du da nicht mehr raus kommst. Dein autonomen Nervensystem dabei zu unterstützen, langsam wieder zwischen beiden Polen zu schwingen und mehr Spielraum dafür zu schaffen, finde ich ungeheuer faszinierend.
Im Alltag hilft dir die Energie, die dein Körper bei Stress entwickelt, leistungsfähig und präsent zu sein. Sagen wir, du musst eine Präsentation halten, bist auf den Punkt konzentriert und beantwortest alle Fragen mit Bravour. Natürlich produziert dein Körper Adrenalin, es ist schließlich aufregend. Du aber hast Vertrauen in dich und weißt, dass du es schaffen wirst. Vielleicht machst du das auch nicht zum ersten Mal. Ist der Moment vorüber, beruhigt sich dein Körper wieder.
Aber was, wenn der Verlauf ein anderer wäre? Du sprichst nicht gerne vor vielen Menschen, bist sehr aufgeregt und stellst mit Schrecken fest, dass dein Kopf plötzlich ganz leer ist. Du bekommst kein Wort raus, verlässt fluchtartig den Raum und möchtest am liebsten im Erdboden versinken. In diesem Fall beruhigt sich dein Körper nicht so schnell wieder, wenn der Moment vorüber ist.
Natürlich ist die Situation rein faktisch gesehen vorbei. Dein Verstand weiß das auch genau, aber der kann hier nicht viel ausrichten. Denn dein Nervensystem sitzt am längeren Hebel und das ist anderer Meinung: die Gefahr ist keinesfalls vorüber! Deshalb bleibt es aktiviert und wachsam. Die als vorübergehender Zustand gedachte Mobilisierung und Aktivierung wird mehr oder weniger zum Dauerzustand.
Somatic Experiencing adressiert genau diese Stressreaktion deines autonomen Nervensystems und hilft ihm aus der Festgefahrenheit heraus wieder in den natürlichen Rhythmus von wechselnder An- und Entspannung zu kommen. Das finde ich wahnsinnig interessant und spannend.
Eine Möglichkeit, dein Nervensystem wieder in seine natürliche Bewegung zu bringen, ist die sogenannte Vervollständigung der orientierenden Abwehrbewegung. Das hört sich ziemlich kompliziert an. Ein einfaches und eingängiges Beispiel dafür habe ich in meinem Jahresrückblick 2022 verbloggt. Damals hatte ich geträumt, mir eine enge Jacke über den Kopf ausziehen zu wollen. Im Traum ist mir das nicht gelungen, ich steckte fest in dieser Jacke und bin so aufgewacht. Der Traum bescherte mir 4 Tage lang Schwindel, den ich erst gar nicht mit dem Traum in Verbindung gebracht hatte. Eine Kollegin hat mir schlussendlich geholfen, meine Bewegungen aus dem Traum zu vollenden und so mein Weihnachten 2022 gerettet. Der Schwindel war einen Tag später weg.
Somatic Experiencing arbeitet mit deinem Körpergedächtnis
Es ist toll, dass du über den Körper Zugang zu unbewussten Erinnerungen bekommen kannst. Dein Körper erinnert sich an alles, was in deinem Leben passiert ist.
Das Erspüren von Körperempfindungen wie angenehm / unangenehm, leicht / schwer, einem Gefühl von Erdung oder von Bewegungsimpulsen bringt dich in Kontakt mit Emotionen oder Gedanken, über die du sonst schnell hinweggehst. Sei es, weil sie unangenehm sind, sei es, weil sie dir gar nicht bewusst sind. Oft können durch Hinspüren Emotionen, Gedanken oder Bilder auftauchen, die kognitiv nicht zugänglich gewesen wären. Sind diese erstmal in deinem Bewusstsein, können sie bearbeitet werden und dein Nervensystem kann lernen, dass diese Erinnerung der Vergangenheit angehört. Das ist entscheidend, um die Kampf- / Fluchtreaktion zu beenden, die nach einer traumatischen Erfahrung unbewusst immer weiter läuft.
Somatic Experiencing stärkt dein Körperbewusstsein
Ich liebe die Klarheit, die ein gutes Körpergefühl vermitteln kann, sowohl bei alltäglichen Begebenheiten als auch in der Arbeit mit Trauma. Dein autonomes Nervensystem kommuniziert mit dir über Körperempfindungen und signalisiert sehr genau, ob es das, was gerade passiert, gut findet, oder nicht. Dafür aufmerksam zu sein ist im Alltag ein guter Kompass und essentiell, um dich von einer traumatischen Erfahrung zu erholen.
Letzte Woche hatte ich zum ersten Mal einen MRT-Termin in der Radiologie. Warst du schon mal in der Röhre? Selbst wenn nicht, kannst du dir vermutlich vorstellen, dass das nicht so angenehm ist. Alles hat gut geklappt, trotzdem habe ich hinterher im Auto gemerkt, dass ich innerlich noch ein bisschen aufgeregt war. Früher wäre mir das gar nicht aufgefallen, ich hätte nicht weiter darauf geachtet. Dieses Mal habe ich mir etwas Zeit genommen. Ein paar Atemzügen und die ersten 3 Schritten von EmotionAid, einer auf Somatic Experiencing beruhenden Kurzintervention, haben meinem Nervensystem geholfen sich zu regulieren. Innerlich wieder ruhig, konnte ich gut nach Hause fahren.
Nach einer traumatischen Erfahrung kann es schwierig sein, den Körper wahrzunehmen. Somatic Experiencing hilft dir, mir deinem Körper langsam wieder in Kontakt zu kommen. Es lohnt sich unbedingt, sich auf die Reise zu machen und ihn wieder als Freund zu entdecken.
Somatic Experiencing verhilft dir zu körperlich gespürter Sicherheit
Heilung findet statt, wenn dein Körper neue Erfahrungen von Sicherheit machen kann. Das beginnt in einer Sitzung schon bei der Anordnung der Stühle im Raum: Fühlt sich der Abstand gut an, oder möchtest du vielleicht die Blickrichtung verändern? Zeit lassen, um anzukommen, damit du dich so sicher fühlst, wie es gerade eben möglich ist, ist wichtig.
Dann können wir damit schon arbeiten: Wenn dieser Abstand zwischen uns sich gut anfühlt, wie nimmst du das wahr? Es geht immer wieder auch darum, Stellen im Körper zu finden, die sich gut oder zumindest neutral anfühlen und diese dann wachsen zu lassen. Peter Levine spricht hier von kleinen Inseln der Sicherheit, die sich zu größeren verbinden können.
Somatic Experiencing pathologisiert nicht
Ich liebe es, dass Somatic Experiencing auf Augenhöhe arbeitet und nicht pathologisiert, d. h. dich als krank bewertet. Nach schlimmen Erfahrungen denken viele Menschen, mit ihnen stimme etwas nicht oder sie fühlen sich schuldig. Kennst du das auch? Dabei sind deine Reaktionen oder Symptome völlig normale Reaktionen auf das, was du erleben musstest. Unnormal waren die Umstände und Ereignisse, nicht die Reaktionen deines Nervensystems auf diese Ereignisse. Und: Du bist nicht schuld!
Diese wertschätzende Einstellung finde ich sehr wichtig und ist für viele Klienten sehr entlastend.
Du musst nicht genau erzählen, was du erlebt hast
Ich liebe die sanfte und vorsichtige Annäherung an dein Thema. Es geht nicht darum, dass du dir alles von der Seele redest. Im Gegenteil, alles erzählen würde bedeuten, dass du die gleiche Angst und Aufregung erneut erleben müsstest und das käme einer Retraumatisierung gleich.
Wir bleiben erstmal am Rande der Geschichte und schauen, wie es dir und deinem Nervensystem damit geht. Natürlich muss ein bisschen Aufregung da sein, um zu arbeiten, aber eben nicht zuviel. Es gilt, in deinem Toleranzfenster zu bleiben, also in einem Bereich, der zwar fordernd, aber nicht überfordernd ist.Fazit: Darum Trauma behandeln mit Somatic Experiencing
Fazit: Darum Trauma behandeln mit Somatic Experiencing
Somatic Experiencing ist eine sanfte und wirkungsvolle Therapieform. Das Augenmerk liegt darauf, wieder Bewegung in dein autonomen Nervensystem zu bringen und deine unterdrückte Lebensenergie ins Fließen zu bringen. Mit dem Körper und dem Körpergedächtnis zu arbeiten, gibt deinem Gehirn die Gelegenheit, Erfahrungen zu prozessieren und kann Veränderungen auf einer tiefen Ebene bewirken.
Welcher Vorfall macht dir zu schaffen? Schick mir gerne eine E-Mail, um ein kostenloses Informationsgespräch zu vereinbaren.
6 Kommentare zu „Somatic Experiencing (SE): 7 Gründe, warum ich diese körperorientierte Traumatherapie liebe“
Liebe Stefanie,
das ist ein ganz wunderbar informativer und angenehm zu lesender Artikel.
Ich habe im Kontext meiner Arbeit angefangen, mich mit „somatic exercises“ zu beschäftigen, stecke zwar noch in den Anfängen, aber fühle mich durch Deinen Artikel sehr bestätigt, mich da auch weiterhin und noch tiefergehend mit zu beschäftigen. Denn aus eigener Erfahrung weiß ich, wie belastend – halt, der zweite Absatz im ersten Kapitel hilft mir, mich jetzt auch zu trauen, traumatisierend zu sagen – es ist, mit Geburtsverletzungen, Prolaps und Inkontinenz zu leben.
Danke!
Ich gehe mich mal ein bisschen ausschütteln jetzt, denn ein bisschen musste ich beim Lesen auch gerade weinen, weil … ach, ich kann es gar nicht in Worte fassen, aber Du ahnst es vermutlich. Es ist auf jeden Fall nichts Schlechtes.
Herzliche Grüße
Aimée, die sich auf noch mehr Artikel von Dir freut! <3
Liebe Aimée, Dein so persönliches Feedback berührt mich. Ausschütteln ist gut und weinen ist auch regulierend, werde ich gleich noch nachtragen. Danke, für diese Zeilen!
Ein buchstäblich sehr liebe-voller Artikel, Stefanie! Ich kann deine Freude an der Methode richtig fühlen. Und kann mir nach der Lektüre gut vorstellen, wie du sehr empathisch Menschen mit einem Trauma Sicherheit gibst und sanft dabei begleitest, ihr Nervensystem wieder zu beruhigen.
Besonders ansprechend und erleichternd finde ich diesen Satz: „Unnormal waren die Umstände und Ereignisse, nicht die Reaktionen des Nervensystems auf diese Ereignisse.“
Liebe Djuke, danke für Deine Rückmeldung. Schön, dass dich dieser Satz so angesprochen hat. Ich habe ich noch einmal ein bisschen verstärkt.
Liebe Stefanie,
Ein sehr guter Artikel, durch den ich jetzt auch besser verstanden habe, was dein Ansatz ist.
Jeder hat beim Lesen wahrscheinlich etwas gefunden, was ihn/ sie anspricht. Ich fand besonders wichtig den Satz: Ich bin nicht schuld !
Wie oft fragt man sich, was hätte ich anders machen können, anders reagieren und kann einfach nicht los lassen.
Gut, dass es Möglichkeiten und Hilfen gibt, damit individuell umzugehen.
Ganz liebe Grüße,
Ute
Liebe Ute, danke für dein Feedback. Ja, das ist eine wichtige und heilsame Erkenntnis. Ich freue mich, dass der Satz in dir angeklungen ist 🙂
Liebe Grüße Stefanie